Was ist aus dem Frei.Wild-Publikum geworden?!
Mit steigendem Erfolg und musikalischer Finesse erweitert sich auch das Publikumsspektrum und ein klares Profil der Fans ist kaum noch auszumachen. So ist es nun mittlerweile gang und gäbe, dass bundesweit in jeder Stadt, an fast jeder Straßenecke, Autoaufkleber und Fanshirts der Band Frei.Wild zu finden sind. Früher noch ein tabuisiertes No-Go und für Fans Garant des Alleinstellungsmerkmals, wird man heutzutage von einem gelben „Rivalen und Rebellen“ – Strom erfasst und mitgeschleift. Frei.Wild ist salonfähig geworden. Früher noch ein ewiges Streitthema und nur von Menschen gehört, die sich mit der Geschichte Südtirols und den Texten genau befasst haben, reicht es heute schon einfach nur Verbalausfälle zu skandieren und schon ist der „Jungfan“ von „Fick dich und verpiss dich“ gepackt, schreit aus voller Kehle den Refrain mit und streckt provokant den Mittelfinger empor. Wird im Gegensatz dazu zwei Schritte daneben zu „Brüderlein zum Wohl“ angestoßen, sind die Neulinge meist völlig perplex, bis hin zur völligen Ahnungslosigkeit und fehlender Textsicherheit. Dieses Gefühl wird mir immer stärker auf Konzerten bewusst. Nostalgisch sehne ich mich nach der Zeit zurück, in der die einzige pogofreie Stelle die erste Reihe vor der Bühne war. Und wollte man nicht pogen, wurde man trotzdem durch den Raum bewegt, ob man wollte oder nicht.
Die Fans haben sich damals noch bewegt? Auf einem Konzert?
Unfassbar! Solche Schlawiner!
Ich möchte an dieser Stelle gleich anmerken, dass dieser Artikel keinesfalls darauf abzielt, eine erneute Diskussion über die beiden „R&R“-Alben auszulösen. Hier geht es nicht um die musikalische Entwicklung oder überhaupt um die Band. Hier geht es einzig und allein um die Fangemeinde und das veränderte Konzerterleben.
Pogo
Mittlerweile bin ich zu einem Konzertnomaden mutiert. Nicht etwa, weil ich gerne laufe, sondern weil ich mich gefühlt 20km durch die Halle schlängeln muss, um wenigstens ansatzweise ähnlich verrückte Pogophile wie mich zu finden. Nicht selten wird von umherstehenden Konzertbesuchern dagegen gepöbelt, bis sich der Moshpit gefrustet auflöst. Warum wird sich über Körperkontakt auf einem Rockkonzert beschwert? Aber gut, auf zu den nächsten 20 Hallenkilometern, in der Hoffnung, dieses Mal nicht auf mufflige Dauersteher zu treffen. Auch von der Band selbst sind Aufforderungen zum Pogo, Wall of Death oder einem Cricle Pit mehr als selten geworden. Der pogoaffine Homo sapiens ist eine aussterbende Art.
Auf Händen getragen
Ebenfalls verlernt haben die Fans das Crowdsurfing. Fasst man die letzten Konzerte der Südtiroler zusammen, ergeben sich vielleicht zwei Handvoll Besucher, die sich vom Händemeer haben tragen lassen. Liegt es an der Songauswahl? Möglich, aber eher unwahrscheinlich. Jeder hat seine eigenen Gedanken, warum er ausgerechnet zu diesem oder jenem Lied in die Luft will oder vielleicht auch einfach ohne Grund bei jedem Song, aus Spaß an der Freude. Also warum wollen die Fans nicht mehr an der Kultaktivität, egal ob aktiv oder passiv, teilhaben? So ist es doch eigentlich nur ein kurzer Kraftakt, der für jeden Mann im Publikum machbar sein sollte. Vielleicht wird man als Crowdsurfer aber auch einfach als Störenfried eingestuft, da das Blickfeld der Handykamera und somit die Filmaufnahme gestört wäre.
Eigene Erfahrung
Erst neulich wurde mir selbst dieses Vergnügen erneut versagt, wie so oft in letzter Zeit. Seit ihrer einjährigen Pause und dem doch teils sehr umstrittenen „Rivalen und Rebellen“- Album, scheint die Fangemeinde fast spontan gealtert und eingerostet zu sein. Dabei war es nur ein Jahr Abstinenz in Frei.Wild´s Ländereien und sind auch neue, zum Teil recht junge Fans ein Teil der Familie geworden. Bei meinem ambitionierten Vorhaben habe ich natürlich bewusst darauf geachtet, dass ich kräftig aussehende Herren anspreche, ob sie mich emporheben würden. Beim ersten Versuch gelang wenigstens noch der Aufstieg, worauf allerdings ein recht rasanter Fall folgte. Ein zweiter Versuch war mir an dieser Stelle nicht vergönnt. So probierte ich mein Glück an anderen Stellen mit ähnlicher Vorgehensweise. Hier wurde ich allerdings gleich auf dem Boden der Tatsachen belassen mit den Aussagen „Ich habe Rückenschmerzen“ und „Ich muss auf meine Freundin aufpassen“. Rückenschmerzen? Und trotzdem 8. Reihe auf einem Rockkonzert? Danke für nichts. Auf die Freundin aufpassen? Früher konnten die das noch alleine, oder waren ganz und gar selbst begeistert im Pogo involviert. Pogo? Und wieder wurde ich nostalgisch und kehrte frustriert an meinen Platz der Bewegungslosigkeit zurück.
Auch ganz vorn ist es anders geworden
Ich unterhielt mich auch mit Fans, deren Zuhause seit Jahren die erste Reihe ist. Ein ähnliches Feedback ist auch von dieser Stelle zu vernehmen. Erste Reihe hieß früher, dass man ein gesamtes Konzert gegen die von hinten drückenden Massen ankämpfen musste und sich als Dank am nächsten Morgen über den schmerzenden Bauch und die von Hämatomen verzierte Hüfte freuen konnte. Mittlerweile ist es sehr erträglich und alles andere als anstrengend sich die drückenden Massen vom Leib zu halten. Man könnte fast meinen, es herrsche Luxus mit genügend Bein- und Armfreiheit und von Bewegung oder gar Freude ist in den hinteren Reihen nichts zu merken
Fazit
Ich frage mich, was die Ursache für diese Entwicklung des Konzerterlebens ist. Auch ich bin älter geworden, aber immer noch eifrig im musikalischen Vollkontaktsport unterwegs. Bin ich einer der Wenigen? Stehe ich als bedrohte Spezies auf der roten Liste der Konzertbesucher? Ist es der Musik geschuldet, die sich verändert hat und ruhiger geworden ist? Natürlich ist das Album ruhiger, als das, was man die Jahre vorher von den vier Südtirolern gewohnt war. Aber dennoch werden auf Konzerten ebenso gut bekannte Konzertklassiker gespielt, welche früher brennende Stimmung garantiert haben. Auch hat sich die Spielweise, wenn überhaupt, nur dezent geändert. Das Einzige, was sich geändert hat, ist das Publikum. Es ist größer geworden, es ist breiter geworden. Es besteht mittlerweile nicht mehr nur aus Deutschrockern, sondern ebenfalls aus Besuchern, welche Frei.Wild nur aufgrund der Popularität hören. Eine klare Szene ist nicht mehr abzugrenzen. Um es kurz und knapp zu sagen, das Frei.Wild-Publikum ist nicht mehr authentisch, das Frei.Wild-Publikum ist Mainstream geworden.
Redaktionell verantwortlich für diesen Artikel:
Über mich: 28 Jahre jung, wohnhaft im Herzen der Republik in Sachsen-Anhalt, begeisterter Deutschrocker und Festivalgänger.
Angefangen bei Vollgas Richtung Rock habe ich als Schreiberling in der Redaktion. Schnell fand ich aber auch Spaß an anderen Wegen der Berichterstattung. So bin ich seit einiger Zeit auch in dem einen oder anderen Bühnengraben mit der Kamera in der Hand vertreten.
In meinem bürgerlichen Leben verdiene ich mir meine Brötchen als Pflegegutachter im Mansfelder Land.
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